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Donnerstag, 25. Februar 2016

Ich lehne es ab, an einen Atomkrieg wegen Syrien und Öl zu glauben

Ich lehne es ab, an einen Atomkrieg wegen Syrien und Öl zu glauben

F. William Engdahl

Die Welt erlebte am Wochenende des 19. und 20. Februar eine Wiederholung der Kubakrise von 1962 durch die wachsende Konfrontation zwischen der NATO und Russland in Syrien. Beide Seite machten sich bereit, taktische Nuklearwaffen einzusetzen und die jeweils andere Seite dafür zu beschuldigen, weil die Situation außer Kontrolle zu geraten drohte. Eine Katastrophe wurde quasi nur zwei Minuten vor Mitternacht abgewendet, als Washington dem hitzköpfigen Herrn Erdoğan mitteilte, dass es nicht hinter seiner geplanten Invasion in Syrien stehen würde. Der russisch-amerikanische »Waffenstillstand«, der am 22. Februar vereinbart wurde, erkaufte den USA lediglich Zeit, um ihren nächsten Schritt zu planen. Es gibt keinen Frieden in Syrien, und tragischerweise ist auch in der absehbaren Zukunft kein solcher möglich.

In diesem höchst bizarren und anscheinend endlosen Konflikt im Nahen Osten, in den Kriegen, die letztlich über etwas so Dummes wie die Kontrolle über Öl geführt werden, ist ein alarmierender Bericht aufgetaucht. Er legt ein Horrorszenario von Nationen vor, die taktische Atomwaffen einsetzen, um sich ihrer Ziele zu vergewissern. Wenn es dazu kommen würde, wäre das das Dümmste, was die Menschheit bisher unternommen hätte, um sich selbst zu zerstören. Angesichts der Auswirkungen dessen, was berichtet wird, verdient das mehr als eine eingehende Überprüfung.

Der Bericht stammt von einem ernsthaften US-Journalisten. Er zitiert eine anonyme »Quelle, die Putin nahesteht«. Danach sei ein Atomkrieg möglich, der Russland gegen die USA, die NATO, die Türkei und Saudi-Arabien aufbringt. Ich weigere mich, an einen solchen Atomkrieg wegen Syrien zu glauben, und ich möchte sagen, warum.

Der Bericht

Robert Parry ist ein amerikanischer Enthüllungsjournalist von ungewöhnlich hoher Qualität. Er hatte neben anderen Geschichten explosive Details über den illegalen Iran-Contra-Skandal der US-Regierung aufgedeckt. Parry hatte am 18. Februar den folgenden alarmierenden Hinweis auf seiner Website gegeben:
»Eine Quelle, die dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nahesteht, hat mir gesagt, die Russen hätten den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gewarnt, Moskau sei bereit, notfalls taktische Kernwaffen einzusetzen, um seine Truppen angesichts eines türkisch-saudi-arabischen Angriffs zu schützen. Da die Türkei ein NATO-Mitglied ist, könnte ein solcher Konflikt schnell zu einer allumfassenden nuklearen Konfrontation eskalieren.«i

Ich habe Parrys Nachforschungen seit den 1990er-Jahren verfolgt und halte sie für fachlich hochwertig. Parrys Bericht wurde danach von Alexander Mercouris auf der Internetseite Russland Insider aufgegriffen. Auch Mercouris ist ein ungewöhnlich ernsthafter und vorsichtiger Analytiker russischer Vorkommnisse. Er fügte zu dem Bericht Parrys eigene detaillierte Angaben über eine ungewöhnliche Sitzung des sehr wichtigen russischen Sicherheitsrates vom 11. Februar bei.

Dieser Sitzung waren eine Reihe militärischer Übungen gefolgt, die kurzfristig im südlichen russischen Militärbezirk anberaumt worden waren. Sie deuteten »auf die Absicht hin, das russische Militär kurzfristig auf sofortige Maßnahmen gegen die Türkei vorzubereiten, sollten sich solche als notwendig erweisen«. ii

Der Deckname eines gleichfalls hoch angesehenen und sachkundigen Militäranalytikers lautet »The Saker«. Seine schriftlichen Berichte über Russland nach dem von den USA organisiertenStaatsstreich in der Ukraine Anfang 2014 waren außerordentlich nüchtern ausgefallen. The Saker druckte Mercouris Artikel auf seinem Blog ab, während er selbst offen dem Bericht Parrys und der Analyse Mercouris widersprach.

Am 20. Februar schrieb er: »Ich sehe keinerlei Szenario für einen in Kürze erfolgenden massiven US/NATO-Angriff, aufgrund dessen Russland seine taktischen Atomwaffen einsetzen würde.« Dazu zitierte er auch aus einer Übersetzung der russischen Doktrin über den Einsatz von Kernwaffen:

»§ 27: Die Russische Föderation behält sich das Recht vor, als Antwort auf den Einsatz von nuklearen und anderen Massenvernichtungswaffen gegen sie selbst und/oder ihre Verbündeten von Atomwaffen Gebrauch zu machen, desgleichen im Falle eines Angriffs gegen die Russische Föderation mit konventionellen Waffen in einer Weise, die ihre Existenz als Staat bedrohen würde. Die Entscheidung über den Einsatz von Kernwaffen wird vom Präsidenten der Russischen Föderation getroffen.« iii

Was ich glaube

Ich möchte etwas feststellen, was sich von dem Bericht über die mögliche Verwendung von Atomwaffen in dem Konflikt in Syrien völlig unterscheidet. Dabei weigere ich mich, zu glauben, dass es wegen Syrien und Öl zu einem Atomkrieg kommen wird. Punkt!

Der Konflikt in Syrien ist im Wesentlichen ein Konflikt zwischen zwei Personen – zwischen Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei und seinem Nachbarn, Baschar Hafiz al-Assad, dem Präsidenten von Syrien, Oberkommandierenden der syrischen Streitkräfte, Generalsekretär der regierenden Ba’ath-Partei und Regionalsekretär der Parteisektion in Syrien. Es handelt sich nicht um den Dritten Weltkrieg, und ich weigere mich, zu glauben, dass es dazu kommt. Es handelt sich um einen Konflikt zwischen zwei Menschen, Assad und Erdoğan.

Wenn wir diese Realität über das Wesen des syrischen Konflikts anerkennen, beginnen wir sofort das, was dort geschieht, zu relativieren. Das Problem ist, dass es im Westen eine Fraktion gibt, die danach lechzt, einen Atomkrieg gegen Putins Russland zustandezubringen, und bereit ist, Erdoğan und den saudischen Prinz Salman dahingehend zu manipulieren und alle und jeden zu täuschen, um dieses Ziel zu erreichen. Sie haben es in der Ukraine versucht und sind dort gescheitert.

Das Problem, ein sehr grundlegendes Problem, das ich jetzt im Nachhinein noch deutlicher erkenne, wenn ich es in diesem Licht betrachte, war ein erster Irrtum, wenn auch ein verständlicher. Russlands Führung hatte Ende September – wie ich glaube – aus einer komplexen Reihe von Gründen entschieden, militärisch zu intervenieren.

Einige Gründe betrafen die Verteidigung der russischen militärischen Sicherheit, einige das russische Ansehen oder vermeintliche Ansehen in der Welt, einige waren komplexe psychologische Gründe, die tief in der russischen Geschichte verankert sind. Sie alle führten dazu, dass Russland das Ersuchen annahm, auf einer der beiden Seiten in den syrischen Konflikt einzugreifen und militärisch gegen Terroristen vorzugehen, die in Wirklichkeit der verlängerte Arm der zweiten Partei, nämlich Erdoğans, waren.

Dieser Fehler hat nun der Kriegsfraktion der NATO und darüber hinaus einer Fraktion im Westen in die Hände gespielt, die verzweifelt wünscht, Russland zusammen mit China als positive Macht zum Wohl der Welt zu vernichten.

Es spielt keine Rolle, ob eine Vertrauensperson im näheren Umkreis von Wladimir Putin die Nachricht über die Verwendung taktischer Atomwaffen, sollte Erdoğans Armee in Syrien eindringen und das Leben von schätzungsweise 20 000 russischen Militärpersonen gefährden, an Robert Parry weitergegeben hat. Russlands Militäraktion in Syrien hat der Welt mehr Energie für Krieg, Mord und Hass eingehaucht. Davon bräuchte die Welt dringend weniger.

Wie ich kürzlich in einem Interview mit dem staatlichen russischen Nachrichtendienst Sputnikerwähnt hatte, gibt es aufgrund der Natur des Krieges keine Gewinner in einem Krieg. Jede Seite in diesem Krieg – Erdoğan, Salman und sein Sohn, Prinz Salman, Vizegeneralsekretär der UNO fürpolitische Angelegenheiten, Jeffrey Feltman, John Kerry, Obama, David Cameron, Hollande – täuscht und spielt machiavellistische Spielchen. iv

Russland steckt in Syrien in einer höchst riskanten Lage, wenn es und seine Führungspersönlichkeiten sich irgendwelchen Illusionen hingeben sollten, dass sich die anderen Beteiligten vernünftig verhalten. Hass kennt keine Vernunft. Syriens Baschar al- Assad kann diesen Konflikt mit der Türkei Erdogğans nicht gewinnen. Ebenso wenig kann die höchst moderne Luftwaffe Russlands den Krieg für ihn entscheiden.

Davon abgesehen haben wir jetzt die absurde Situation, dass Tausende nervöser türkischer Militärs bewaffnet an der Grenze zu Syrien stehen und hinüber spähen. Neben diesem törichten Schauspiel haben wir die jüngste Bereitstellung von saudi-arabischen Kampffliegern auf dem türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik, der nur 106 Meilen von der russischen Luftwaffenbasis Khmeimim entfernt ist, die in der Nähe von Latakia in Syrien liegt.

Die saudi-arabischen Kampfflugzeuge mit rund 5.000 Mann Flugpersonal liegen neben verschiedenen Militär-Fflugzeugen der türkischen Luftwaffe, des dort stationierten 39. Geschwaders der US-Luftwaffe und neben den F-15E-Düsenjägern der königlich britischen Luftwaffen, die im November 2015 dorthin verlegt wurden, um am "»Angriff auf ISIS«" teilzunehmen. Es ist auch erwähnenswert, dass Incirlik zurzeit einer von sechs europäischen NATO-Luftwaffenstützpunkten mit einem Lagerbestand an taktischen Atomwaffen ist. v

Der türkische Luftwaffenstützpunkt Incirlik (Rroter Stern) in der Nähe der syrischen Grenze ist einer von sechs europäischen NATO-Basen, auf denen taktische Atomwaffen lagern.

In meinem neuesten Buch, The Lost Hegemon: Whom the gods would destroy (Der abgetretene Hegemon: Wen die Götter zerstören wollen) gehe ich ausführlich auf die komplexe, jahrzehntealte, unheilige Allianz zwischen dem Todeskult der Muslimbruderschaft und der CIA ein, die bis ins Saudi-Arabien der frühen 1950er- Jahre zurückreicht, und zeige darin, dass die Konflikte zwischen Syriens Assad und der Türkei Erdogğans überhaupt nichts mit Religion zu tun haben.

Das ist eine Tatsache, unabhängig davon, wer sich sonst noch entschieden hat, auf einer der beiden Seiten daran teilzunehmen. Der Konflikt erinnert viel mehr an eine Kneipenschlägerei, nachdem die erste Bierflasche geworfen worden warist. Er hat nichts damit zu tun, dass Christen –Orthodoxe, Katholiken oder andere -– getötet werden, trotz der jüngsten Gespräche zwischen dem römischen Papst und dem Moskauer Patriarchen. Es handelt sich auch nicht um einen Krieg sunnitischer Wahhabiten gegen Schiiten oder Alawiten.

Das Geheimnis: Es geht um Öl, Dummkopf!

Der schlecht verstandene Grund für diesen Konflikt in Syrien und im gesamten Nahen Osten ist die Kontrolle über Öl -– über Syriens angebliche riesige Öl-Lagerstätten in den von Israel besetzten Golanhöhen, über Iraksdie großen Öl-Vvorkommen des Iraks in Kirkuk und anderswo, über Libyens erhebliche Ölreserven und QKatars riesige Erdgas-Vvorräte. Alle sind hinter dem Öl her -– Bbritische und US-Öl-Interessen, französische, saudi-arabische, türkische, syrische, Iisraelische und irakische Kreise – sie alle. Auch beim NATO-Konflikt mit Russland geht es zum großen Teil um Öl und Erdgas. Selbst Chinas laufende Konflikte mit seinen Nachbarn und den Vereinigten Staaten im sSüdchinesischen Meer drehen sich weitgehend um Öl.

Der Syrien-Konflikt ist im Lichte dessen zu sehen, worum es eigentlich geht: Er ist im Wesentlichen ein Streit zwischen zwei Personen, zwischen Assad und Erdogğan um die Kontrolle über Öl und die riesigen Geldgewinne aus dem Öl. Es handelt sich nicht um den Beginn des Dritten Weltkriegs, wie jener römische Papst das im letzten Jahr am Josée- Martíi- Flughafen in Kuba behauptet hat. Das ist der Grund, weshalb ich mich zu glauben weigere, dass es wegen Syrien und seines Öls zum Atomkrieg kommen wird.



Fußnoten:

i Robert Parry, »Risking Nuclear War for Al Qaeda?« (Nehmen wir wegen al-Qaida einen Atomkrieg in Kauf?), 18. Februar 2016
ii Alexander Mercouris, »Did Russia Just Threaten Turkey With Nuclear Weapons?« (Hat Russland der Türkei gerade mit Atomwaffen gedroht?), 19. Februar 2016, bei: Russia Insider.
iii The Saker, »Week Nineteen of the Russian Intervention in Syria: Would Russia use nukes to defend Khmeimim?« (19. Woche der russischen Intervention in Syrien: Würde Russland Atomwaffen zum Schutz von Khmeimim einsetzen?), 20. Februar 2016.
iv Ekaterina Blinova, »Daesh Terrorists: A Multifunction Tool in Hands of Ankara, Riyadh, NATO«(IS-Terroristen: Ein multifunktionales Werkzeug in den Händen Ankaras, Riyads und der NATO), in:Sputnik News, 20. Februar 2016.
v Gordon Corera, »Tactical nuclear weapons ›are 'an anachronism‹'« (Taktische Atomwaffen »sind ‘ein Anachronismus«‘, in: BBC News, 3. Februar 2012.






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